von 1944 bis 1983

Achim Reichel 1957
Achim Reichel 1957

„Rock Made in Germany“

Die Entwicklungsgeschichte der deutschen Rockmusik ist eng verknüpft mit einem Mann: Achim Reichel. Der am 28.1.1944 in Wentorf bei Hamburg geborene Blondschopf leistete in seiner nun über zwanzig Jahre währenden Musiker-Aktivität grundlegende, innovative Pionierarbeit für den „Rock Made in Germany“.

Mit seinem Ehrgeizigen und ideenreichen Engagement ist der Rockmusiker / Sänger / Songschreiber / Produzent und ehemalige Plattenfirmen-Manager einer der frühen Schrittmacher der heimischen Rockszene. Achim Reichel leistete entscheidende Aufbaudienste für das Fundament, auf dem heute die facettenreiche und stilistisch bunte Liga der alten und jungen deutschen Pop- und Rock-Gesellschaft tanzt. So scheint es nur gerechtfertigt, wenn ihn die überregionale Tageszeitung „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ als „die erste Kultfigur für Deutschlands junge Beat-Generation“ charakterisierte.

Den ersten Schritt zu diesem Ruhm machte Achim Reichel in Hamburgs legendärem Rock-Lokal auf der berüchtigten „Reeperbahn“, dem „Star-Club“. Der Rock 'n' Roll-Laden auf St.Pauli, Hamburgs „Wildem Westen“, war die Heimat vieler international bekannter Beat- und Rock-Gruppen:

The Searchers, Gene Vincent, Ray Charles, Jerry Lee Lewis, Fats Domino, Bill Haley, The Animals, Chuck Berry, Chubby Checker und The Beatles. Achim Reichel, der 1961 mit drei Freunden die Rockband The Rattles gegründet hatte, erhielt als erster deutscher Musiker mit jenen Rattles ein Engagement im "Star-Club".

Achim Reichel 1965
Achim Reichel 1965

Im Herbst 1963 starteten die Rattles zu ihrer ersten England-Tournee, die sie zusammen mit den Everly Brothers, Little Richard, Bo Diddley und den Rolling Stones den britischen Rockfans vorstellte. Jubelnde Kritik der Presse: „Das sind die deutschen Beatles!“, Bis 1966 erschienen an die 30 Single mit dem fulminanten Rocksound der vier Hamburger Boys, im „Star-Club“ wurden mitreißende Konzerte für Langspielplatten mitgeschnitten, und die Fans sangen daheim und auf der Straße Rattles-Hits wie ‚Mashed Potatoes‘,‚La-La-La‘ und ‚Come On And Sing‘. 1966 wurde das erfolgreichste Jahr der Rattles: Mit den Beatles gingen sie auf Deutschland-Tournee und ihr erster Kinofilm, ‚Hurra – Die Rattles kommen!‘, hatte Premiere.

Wenig später mußte Achim Reichel die Rock-Gitarre gegen den Stahlhelm eintauschen. Da „Bisher keine Anzeichen dafür vorliegen, daß Beatmusik in naher Zukunft aus der Mode kommen wird“ wie das Gericht 1967 Reichels Antrag auf Rückstellung vom Wehrdienst ablehnte, rückte er zum Dienst bei der Bundeswehr ein. Katastrophe! Die Fans waren verzweifelt. Rekrut Reichel, der Star der deutschen Rockszene, füllte die Feuilletonseiten der Boulevardpresse. „Hamburger Beatsoldat bald General?“, fragte gar ein Reporter.

Doch nicht der Dienst am Staat, sondern die Begeisterung für den Rock 'n' Roll prägte den weiteren Lebensweg. 1968 kehrte Achim Reichel ins Rampenlicht zurück. Wonderland hieß seine neue Gruppe, die auf Anhieb den Hit ‚Moscow‘landete. Produzent jenes Erfolges war kein Geringerer als Orchester-Leader und Weltstar James Last. Zusammen mit dem australischen Pop-Trio The Bee Gees machten Reichel & Co eine letzte Deutschland-Tournee.

Das Bedürfnis nach Verwirklichung eigener Ideen ließ Achim Reichel eine Solo-Karriere eingehen. Er konzentrierte sich auf meditative Rock-Improvisationen. Das erste Plattenergebnis jenes "A.R. & Machines" genannten, elektronisch psychedelischen Musik-Projektes war die LP "Die grüne Reise." Lobende Kritik von allen Seiten. "Gruppen wie Tangerine Dream und Kraftwerk perfektionierten später, woran sich Reichel wieder einmal als einer der ersten versucht hat", resümierte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Fünf weitere Platten mit bizarren Improvisationen folgten. Gleichzeitig startete Achim Reichel seine Tätigkeit als Schallplattenproduzent und verhalf mit seinem Können und Know-how vielen namhaften deutschen Musikgruppen (u.a. Novalis und Ougenweide) zum Erfolg.

Ab 1975 überzeugte der rührige Hamburger mit einer Vielfalt musikalischer Konzepte. „Im Seemanns-Milieu bin ich aufgewachsen und die Rockmusik hat mich geprägt“, umreißt er die Motivation für "Dat Shanty Alb'm", eine Sammlung bekannter plattdeutscher und englischer Seemannslieder, denen Rock 'n' Roller Reichel neues Leben einhauchte. Das politische Wochenmagazin „Der Spiegel“ schrieb dazu: „Mit diesen verrockten Seemannsliedern, die so natürlich und unprätentiös klingen, als hätten sie schon immer diesen Beat-Rhythmus gehabt, hat er auch gleich einen Klassiker produziert." Wieder einmal hatte Achim Reichel Pionierdienste geleistet, indem seine Transfusionen dazu beitrugen, daß Rock 'n' Roll - Musik raumgreifender als Volksmusik verstanden wurde. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ analysierte: „… macht deutlich, daß sich nur wenige Rockmusiker im Wandel der Moden und Maschen über einen Zeitraum von zwanzig Jahren als Jung gebliebene behaupten. Achim Reichel symbolisiert in seiner unaufhaltsamen musikalischen Verwandelungsfahrt, daß Rockmusik wie andere Ausdrucksformen populärer Kunst ihre Zeit in Bildern, Worten und Klängen immer wieder neu benennen muß.“ Für sein Album ‚Regenballade‘ vertonte Reichel beispielsweise Texte alter deutscher Dichter: Goethe, Liliencron und Fontane wurden verrockt und brachten Achim Reichel auf die Nummer 1 der „Kritiker-Bestenliste“.

Auf der Suche nach einer neuen Rocksprache zog sich der auch als Musikverleger tätige Musiker in den vergangenen Jahren von jenen alten Dichtern zurück, um zusammen mit der neuen, jungen Literatur-Garde Deutschlands eine zeitgemäße Synthese aus Wort und Musik zu erarbeiten. Er traf auf Poeten wie Jörg Fauser, Richard L. Wagner, Peter-Paul Zahl, Kiev Stingl, Jürgen Theobaldy und Christoph Derschau. Sie lieferten die Sprache zu seinem erdigen, traditionell gewachsenen, locker gespielten Rock. So singt er heute von Einzelkämpfern, von Verlierern, von Huren und Ratten, von Gestrandeten und wenig Bevorteilten unserer Gesellschaft.

1982 kehrte er nach langer Pause auf die Bühne zurück. Die Konzerte blieben nicht ohne Reaktion. „Reichel '82 war einer der bedeutenden Abende des Rock“, bemerkte die Presse. „Eigenständigkeit und Ideenreichtum gepaart mit musikalischer Brillanz findet man in dieser Dichte nicht noch mal. Reichel ist Rock 'n' Roll, so echt, so gegenwärtig, so livehaftig wie selten zuvor.“

Die Risikobereitschaft des stets agilen Denkers und Aktivisten zahlte sich aus. Seine kreative Unrast, nie auf der Stelle zu ruhen, wurde vom Publikum anerkannt. Auch im Kino stellte Achim Reichel in den nächsten Monaten seinen Mut zur umfassenden Verwirklichung dar: Als Schauspieler gibt er sein Debüt in dem Kino-Krimi „Vabanque“.

Achim Reichel 1981
Achim Reichel 1981

Trotz dieses kleinen Seitensprungs bleibt er in erster Linie Rockmusiker. Gerade mit seinen letzten drei Platten - ‚Ungeschminkt‘ (1980), ‚Blues in Blond‘ (1981), ‚Nachtexpress‘ (1983) - bewies er, welchen Bestand und welchen Reichtum die sonst oft in Frage gestellte Koexistenz zwischen deutscher Sprache und anglo-amerikanischen Rock 'n' Roll-Traditionen haben kann. Er schaffte sogar das Erstaunliche, mit seinen anspruchsvollen Texten beachtliche kommerzielle Erfolge in den sonst auf wenig Inhalte programmierten Hitparaden zu entwickeln. Milieu - aus diesem Lebensraum der nackten Zwischenmenschlichkeit stammen die Songs von Achim Reichel. Er schreibt und komponiert direkt aus dem Leben. „Für mich gilt das Prinzip Hoffnung“, gesteht er, „selbst wenn die Perspektive erst einmal im privaten Bereich zu finden sind. Und ich meine, daß sich diese Einstellung im Rock 'n' Roll wieder spiegelt. In dieser Musik habe ich meine künstlerischen Wurzeln. Mit ihr hab ich den musikalischen Urknall erlebt. Im Grunde genommen bin ich ihr treu geblieben. Mein Musiker-Herz hat da angefangen zu schlagen, als der Rock 'n' Roll seine Blüte hatte – Elvis Presley, Little Richard, Buddy Holly …“ - Dieses Herz pulsiert noch immer im zeitgemäßen Beat.

Willi Andresen für das Goethe Institut - 1983