Volxlieder

(2006) Tangram / Indigo CD 869532

Volkslieder sind wie Bäume du kannst ihnen die Krone stutzen, die Wurzeln bleiben erhalten.

Das Unterbewusstsein lässt sich nicht überlisten 
„Wenn mir die Kartenlegerin meiner Mutter in den wilden Sechzigern vorausgesagt hätte, dass ich nach einem langen und bewegten Musikerleben mit großer Überzeugung und Leidenschaft ein Album mit deutschen Volksliedern aufnehmen würde, da hätt’ ich sicher gedacht: Weit gefehlt!

Meine Pläne sehen ganz anders aus. Als Schuljunge habe ich Volkslieder immer als langweilig empfunden und darum auch schnell wieder ins Unterbewusstsein verdrängt.“

Aber seit Sigmund Freud wissen wir, das Unterbewusstsein lässt sich nicht überlisten und drängt immer mal wieder nach oben.

Der Liederschatz des eigenen Landes
Um der weltweiten Gleichmacherei im Zuge der Globalisierung etwas entgegenzusetzen, haben Länder und Regionen längst begonnen, sich auf Eigenständigkeit und Traditionen zu besinnen, sie zu beleben und dem überregionalen Kulturbetrieb zugänglich zu machen. Und so kann es vorkommen, dass bei einem, der als Vater der Deutschen Rockmusik gilt, die Erinnerungen an einen Schatz lebendig werden, der Volkslied heißt.

Volxlieder

Aber – wie alles, was man ausgräbt, musste auch dieser Schatz erst einmal entstaubt und von falschen Tönen befreit werden. Bei seinen Recherchen zum Thema heimatliche Folklore hat REICHEL herausgefunden, dass Volkslieder von jeder Generation und in allen politischen Systemen immer wieder anders ausgelegt wurden – sie sind quasi ein schmiegsames Material, das lebendig bleibt solange es mit der Zeit geht und von den sich ändernden Verhältnissen neue Impulse bekommt. Traditionalisten, Dogmatikern und Puristen sei es unbenommen, Volkslieder in reiner Form zu konservieren – wenn es denn eine „reine Form“ überhaupt gibt. Kreative Künstler aber, so findet REICHEL, sind geradezu aufgerufen, die Lieder immer wieder inhaltlich und stilistisch zu aktualisieren. Das Zusammenspiel regionaler Folklore mit der Musik anderer Völker definiert sich dann als Weltmusik, und Weltmusik, sagt REICHEL, sei für ihn interessanter, als die dünnblütig gewordene Popmusik.

REICHEL hat Volkslieder noch in der Schule gelernt, fand das Genre aber nicht sonderlich interessant, weil Beatmusik und Rock’n’Roll seinem jugendlichen Temperament entschieden mehr entsprachen: „Aber es ist einem wenigstens mal begegnet“. Und einiges vom heimatlichen Liedgut, immerhin, war hängen geblieben. „Irgendwann, auf dem Weg des Sich-Selbst-Entdeckens, weg vom ‚Ich möchte so sein wie …‘, kommt der Punkt, wo man sagt: Jetzt müsste ich auch mal zu einer eigenen Sichtweise gelangen. Ich möchte kein Mietmusiker sein, der alles spielt, was man ihm vorsetzt.“

Den Liederschatz des eigenen Landes hatte REICHEL ja schon des öfteren im Blick, ob Shantys (Dat Shanty Alb’m 1976, Klabautermann 1977) oder Balladen (Regenballade 1978, Wilder Wassermann 2002) oder das, was in Richtung traditionelles Volkslied tendiert. Eine Verbindung zur deutschen Folklore ergab sich bereits, als REICHEL in den 70er Jahren als Produzent der Gruppe Ougenweide anregte, sich von den anglo-amerikanischen Vorbildern wie Pentangle, Steeleye Span, Fairport Convention zu lösen. Stattdessen sollten sie sich mit Poeten wie Walther von der Vogelweide, Neidhardt von Reuental oder Oswald von Wolkenstein auseinander setzen, was sie dann auch sehr erfolgreich taten.

Volxlieder

Mann, das wird ja ne völlig irre Platte, so hippes Zeug hab ich lange nicht gehört!
„Was mich selbst betrifft, konnte ich mir zwar nicht vorstellen, Mittelhochdeutsch zu singen, aber ich erkannte, dass man die Lieder aus unserer Vergangenheit durchaus gegenwartsbezogen verpacken kann. Das hat dann dazu geführt, dass ich irgendwann auf die Idee mit dem Shanty-Album kam. Shantys sind eigentlich schon Weltlieder, da mischen sich auch alle Kulturen. Die Seeleute sind mit ihren Schiffen weit herumgekommen und haben sich verschiedenste Musikstile abgeholt und daraus etwas Eigenes gezimmert. Das fand ich spannend. Shantys sind für mich eine ideale Liedform, die kannst du auf Deutsch singen, auf Plattdeutsch, und die kannst du auch auf Englisch singen. Und du konntest sie auch so richtig rocken lassen – das passte wunderbar zusammen. Jetzt, mit den Volksliedern, bin ich woanders angekommen. Ich bin ruhiger geworden und habe nicht mehr immer den Wunsch, es ständig krachen zu lassen. Für mich sind inzwischen auch subtilere musikalische Formen interessant. Bei der Arbeit an dieser Produktion sagte mein Bassmann zu mir: ‚Mann, das wird ja ne völlig irre Platte, so hippes Zeug hab ich lange nicht gehört!‘“

Wenn ich das anders empfinde, dann sing ich das auch anders
Was die CD ‚Volxlieder‘ betrifft – ACHIM REICHEL verändert oft die Melodien, und die Begleitinstrumente versuchen, so scheint es, ihn auf den geraden Weg des Originalgetreuen zurückzubringen. Doch niemand weiß, wie das Original wirklich geklungen hat, letztlich bleiben die traditionellen Lieder im wahrsten Wortsinn Spiel-Material: „Ich finde es ganz wichtig, dass diese Melodien auslegbar sind. Ich hatte ja Kontakt mit dem Volksliedarchiv in Freiburg, eine interessante und sehr zugängliche Institution. Durch sie hab ich viele Vorformen und Zwischenformen der Lieder kennen gelernt, häufig mit drei, vier ganz unterschiedlichen Texten, und du stehst davor und überlegst – welchen nehme ich denn jetzt? Und dann findest du sicher einen Puristen, der dir sagt – den musst du nehmen, alle anderen sind falsch. Das ist eben das Spannende an der Sache, dass man mit so einfachen Kriterien wie richtig oder falsch hier nicht weiterkommt.

Die Tradition der Volkslieder ist eben nicht statisch, sie befinden sich in einem ständigen Wandel. Um den Liedern eine Gemütstiefe, heute würde man auch sagen feeling, geben zu können, musste ich einen weiten Weg gehen. Dabei war es mir nicht unbedingt wichtig, Melodien ‚originalgetreu‘ einfach so abzusingen. Wenn ich das anders empfinde, dann sing ich das auch anders.“

REICHEL wendet sich scharf gegen eine Bewertung von Volkskultur lediglich anhand von Umsatz, Massentauglichkeit und Einschaltquote: „Man kann Volkskultur nicht allein nach industriellen Maßstäben beurteilen, damit wird sie auf eine Produkt- und Konsumgutebene herabgezogen.“ Dass unsere Volkslieder davon bedroht sind vergessen zu werden ist ein Alarmzeichen. Ein Volk ohne seine Lieder ist nicht komplett, und ihr Verlust ließe sich durch nichts anderes auffüllen. Denn unsere alten Lieder sind aus einem Stoff, der die Weisheit von Jahrhunderten in sich trägt. Es ist nicht die Weisheit der Reklamewände und auch nicht das Ergebnis von ausgetüftelten Marketingkampagnen.