Konzertberichte

Achim Reichel: Er weiß, was das Volk hören will

Der Auftritt auf dem St. Pauli-Festival vor einigen Wochen war für ACHIM REICHEL ein überwältigender Erfolg: Das ganze Stadion verbrüderte sich in einer Allianz aus Autonomen, Fans und ganz normalen Bürgern mit dem 47jährigen und sang dessen momentanen Hit „Aloha Heja He“: Der Gassenhauer, dessen hanseatisch angehauchter Bierzelt-Refrain Klassiker-Charakter hat, war kurz zuvor in die Top Ten eingezogen.

TAZ – 4. Oktober 1991


Achim Reichel begann seine Deutschlandtournee im m.a.x.

Steaks und Bier und ganz viel Beifall

So undramatisch kann eine Deutschlandtournee beginnen: ACHIM REICHEL trat auf die Bühne, schnallte seine Gitarre um und rockte zweieinhalb Stunden lang in der überfüllten Max Music Hall. Ein Tourneestart, wie ihn sich jeder Musiker nur wünschen kann. Mit spürbarer Erleichterung nahm der Hamburger dann auch die begeisterten Ovationen des Publikums entgegen – man merkt ihm an, dass er mit ausgelassener Spielfreude an seine erste Tour seit 1986 ging.

Mit Fliegende Pferde begann das Konzert – vielleicht ein Zeichen, dass REICHEL noch nicht so überzeugt war, dass die Songs seiner neuen LP schon so bekannt und beliebt sein würden, um von Anfang an die richtige Stimmung aufzubauen. So spielt er alte und neue Lieder in einer Mischung, die es ermöglicht, dass alle, von Zwölf bis Mitte Fünfzig auf ihre Kosten kamen. Der Shanty-Klassiker Rolling Home wurde genauso begeistert beklatscht wieNachtexpress oder Baggersee von seiner 89er Produktion Was Echtes. „Was Echtes“ abzuliefern, das schien für den 47jährigen an diesem Abend das Wichtigste zu sein: Er und seine vierköpfige Band improvisierten ohne den Faden zu verlieren. Sie bezogen das Publikum mit ein, wenn es passte, und REICHEL erntete mit seiner offenen, sympathischen Art auch Applaus wenn er wie bei „Herr von Ribbeck“ mal einen Teil des Textes vergessen hatte. Da macht es auch nichts, dass der Sound nicht immer erstklassig war, REICHELs Gitarre zeitweise brummte – entscheidend war die Stimmung, die jeden im Saal begeisterte.

Während seiner Tour wird der Bühnenerfahrene überwiegend in kleineren Clubs wie dem m.a.x. spielen und darin liegt, wie zu Star-Club-Zeiten, seine Stärke. Hier kommt er hautnah rüber, keine Absperrgitter halten die Fans auf Distanz, jeder im m.a.x. konnte sehen, wie angestrengt aber auch spielfreudig REICHEL und seine Musiker rockten. Das umfangreiche Repertoire aus 30 Jahren Musikerkarriere ermöglicht es ihm dabei sogar, auf einige seiner besten Stücke der aktuellen LP Melancholie & Sturmflut live zu verzichten. So fehlt der Titelsong Sturmflut ebenso wie Die Ballade von Susi und Johnny und auch das von der Plattenfirma als erste Singleauskopplung favorisierte Made in Paradise. Umso begeisterter nahmen die Fans ältere Songs auf: Die rund 1500 Leute sangen enthusiastisch mit beiSteaks und Bier und Zigaretten, Riesenbeifall brauste auf, als die Band den Spieler anstimmte. REICHEL ist gerührt: „Ich glaub', ich nehm' euch mit auf Tour“.

Nach fünf Zugaben, zuletzt ein Mix aus Rattles-Klassikern der 60er Jahre, verabschiedete sich REICHEL mit den Worten: „Ihr wart ein Super-Publikum, und ich glaube, wir waren auch ganz gut“ – eine bescheidene Umschreibung für ein Konzert der Spitzenkategorie.

Dietmar Wagner, Kieler Nachrichten – Mittwoch, 9. Oktober 1991


„Sturmflut“ auf dem Kiez

St. Pauli Blues: Achim Reichel kehrte zurück

Er ist ein echter Hamburger Jung. Aufgewachsen auf dem Kiez, wo er mit seinen legendären Rattles vor 30 Jahren im Star-Club auf der großen Freiheit zu Berühmtheit gelangte und als deutsche Antwort auf die Beatles galt. Jetzt kehrte ACHIM REICHEL zurück, um einem begeisterten Publikum den „St. Pauli Blues“ zu singen. Und zwar an Ort und Stelle: im zum Bersten gefüllten Musikclub „Große Freiheit 36“.

Pünktlich um 21 Uhr ließ REICHEL die Leinen los. Im Mittelpunkt standen Hits wie „Fliegende Pferde“ oder „Der Spieler“ sowie die Stücke des neuen Albums „Melancholie und Sturmflut“. Einen Sturm der Begeisterung entfachte der 47jährige mit seiner spritzig-witzigen Show. Und das, obwohl nicht wenige im Publikum wohl schon Anfang der sechziger Jahre zu REICHELs Fangemeinde gehörten.

REICHELs Grundsatz: Musik soll Spaß machen. Das tat sie an diesem Abend, selbst dann, wenn seine Texte sozialkritisch wurden. Die Musik war dann entsprechend – hart wie das Leben.

(af), Hamburger Abendblatt – 10.Oktober 1991


Achim Reichel

Nachtexpress auf der Großen Freiheit

Die Stimmung kam mit dem „Nachtexpress“. Sehr spät, aber dann ging's ab.

In der Großen Freiheit genießt ACHIM REICHEL, der große Blonde mit den stahlblauen Augen, offensichtlich die große Freiheit eines Heimspieles. Heimkehr nach vier Jahren – und was für eine.

Es ist wie in alten Zeiten, damals noch gegenüber im Star-Club, eine Riesen-Party. Das Haus mit 1300 Fans ausverkauft, die Musik wie seinerzeit bei den Rattles. Der Funkenflug von der elektrischen Gitarre zum Publikum klappt mit einiger Verzögerung. ACHIM REICHEL vertraut auf die alt bewährten Rock 'n' Roll-Riffs, mischt gelegentlich ganz leicht moderne Keyboards mit ein.

Ansonsten bleibt alles beim alten: Bei den Songs von „Boxer Kutte“, „Steaks und Bier und Zigarretten“, „Kuddel Daddel Du“. Als er seinen „St. Pauli Blues“ ins Mikro röhrt, sind die alten und neuen Freunde endgültig aus dem Häuschen und bei „Aloha Heja He“ singt sein Chor mit, auch noch, als er sich längst durchgeschwitzt in die Kulisse zurückgezogen hat. Achim kommt wieder. Aber schon jetzt ist das Wiederholungskonzert am 20. Oktober ausverkauft: Aber alle guten Dinge sind drei?

TH.Lueke und J.LÜBBARS, Bild – 10. Oktober 1991


Achim Reichel: Virus von der Waterkant

Düsseldorf. Es gibt sie noch, diese Konzerte, bei denen sich irgendwann langsam die Nackenhaare sträuben und es dann eiskalt den Rücken runterläuft. Sechs Jahre lang hat ACHIM REICHEL sich nicht mehr solo auf einer Bühne sehen lassen. Jetzt kehrt er ins Scheinwerferlicht zurück und wurde dafür im Düsseldorfer „Tor 3“, bei seinem einzigen NRW-Konzert, mit Ovationen gefeiert.

REICHEL ist seiner Musik aus den 60ern treu geblieben. Keine großen Arrangements, kein Firlefanz – kleine, eingängige zündende, in ihrer Einfachheit geniale Songs sind sein Metier. Dazu erzählt er Geschichten. Einst die von Ringelnatz, dann die von Jörg Fauser und nun seine eigenen. „Sophie, mein Henkersmädel“, „Der Spieler“, „Fliegende Pferde“ oder „Kudddel Daddel Du“ – Lieder, die mehr im Bauch als im Kopf entstanden. Und auch so richtig schön zum Mitsingen, wovon in Düsseldorf reichlich Gebrauch gemacht wird. So ganz nebenbei stellt ACHIM REICHEL klar, dass er ein erstklassiger Gitarrist ist.

An der Elbe wird der „neue“ REICHEL seit der Veröffentlichung der letzten LP „Melancholie und Sturmflut“ als Hamburgs Antwort auf Herbert Grönemeyer gefeiert. Zumindest als die Düsseldorfer minutenlang „Aloha Heja He“, den neuesten Hit des Jungen von St. Pauli, sangen, da wurde klar: Der Virus von der Waterkant breitet sich aus.

Klaus Bröking, Westfälische Rundschau – 16. Oktober 1991


Klassentreffen

Achim Reichel in der Batschkapp

Da stehen sie. Einige hundert. Haben die neuen Jeans angezogen mit den schmalen Ledergürteln, die bunten Hemden, Lackhalbschuhe, gelegentlich weiße Socken. Die Frauen dezent geschminkt. Und sie fallen dadurch auf, dass sie unauffällig wirken wollen. Oder wer wirft in der Frankfurter „Batschkapp“ bei einem Rockkonzert seinen Bierbecher nicht einfach auf den Boden, sondern stellt ihn nach vergeblicher Papierkorbsuche sorgsam verstohlen in eine Ecke? Und wer schaut sich zwei Stunden lang immerzu um, ob er jemanden sieht oder von jemandem gesehen wird? Wippt im Takt mit dem rechten Fuß, hält jedoch immer eine Hand fest an dem Umhängetäschchen? Es ist nicht böse gemeint. Es ist nun mal so. Sie waren vielleicht das letzte Mal auf einem Rockkonzert vor fünf Jahren bei Nena, zusammen mit der damals zwölfjährigen Tochter.

Heute sind sie aus eigenem Interesse gekommen. Sind hier da wegen eines 47jähigen in Bluejeans, weißem T-Shirt, darüber ein schwarzweiß kariertes Flanellhemd. Es hängt über der Hose, so wie man es früher nie durfte. Ein Mecki-Haarschnitt, an den Schläfen leicht ergraut, meint man. Allerdings ist der im Vorteil, er kann sich artikulieren. Er rockt und singt. Singt von Träumen und von Erlebnissen. Mitten in der Nacht „mit dem Auto Richtung Süden, weit und breit kein Hotel in Sicht“. Ja zum Donner, man legt sich halt heute nicht mehr im Schlafsack an den Straßenrand! Singt vom Beginn einer Liebe, beschreibt ein Gefühl, singt „wir lassen uns treiben, ohne Ziel und Zeitgefühl“, und „vielleicht ist es zu spät für uns, aber es ist nie zu spät für die Liebe“. Singt vom Ende einer Liebe, als sie auszieht. „Nimm Deinen roten Lippenstift aus dem Bad, den Nagellack, die elektrische Zahnbürste …“ Nein, es ist kein richtiges Rockkonzert. Eine Melange aus Klassentreffen, Bewunderung des Gleichaltrigen auf der Bühne und Beobachtung der wenigen Jungen, die alle Texte mitsingen und die Bierbecher – dann doch – auf den Boden schmeißen. Dabei musiziert er nicht schlecht, mit einer richtigen Rockcombo: Gitarren, Keyboard, Schlagzeug, basta. Sie spielen geradeaus, ehrlich. REICHEL singt mit kerniger, rauchiger Stimme Texte, die nicht ganz so bescheuert sind wie bei anderen Deutschen („Da steht noch der Obstsalat den sie mitgebracht hat“, Klaus Lage). Er singt die Hits, die täglich über die einschlägigen Sender laufen, die jeder kennt.

Als dritte Zugabe ein Potpourri der alten Rattles-Hits, perfekt dargebracht. Ein Rhythmus, bei dem eigentlich jeder mit muss. Die Jungen fangen an zu tanzen, die ältere Generation jedoch wird plötzlich noch ruhiger. ACHIM REICHEL beatet auf der Bühne, sie aber stehen bewegungslos und hören zu, und es scheint, als hörten sie immer weniger. Als träumten sie hinweg. Sie stehen mit wehmütigem Lächeln, sehen vorne im Publikum ein Liebespaar aus zwei Generation turteln, eine Endvierzigerin hält einen Jungen eng umschlungen, er mag vielleicht neunzehn sein.

Michael Herl, Frankfurter Rundschau – 17.10.91