Pressebericht

Zur Erstveröffentlichung 1978

Roll over Goethe

Achim Reichels klassische Rock-Balladen

Sein Markenzeichen: Ein Gorilla, der mit dem Schmetterlingsnetz Noten einfängt. Die Firma heißt folgerichtig Gorilla Musik, Sitz in 2000 Hamburg, genauer gesagt in St. Pauli. Seeleute würden wahrscheinlich sagen, „auf St. Pauli“. Dort ist er aufgewachsen: ACHIM REICHEL, Deutsch-Rocker der ersten Stunde. Nun soll's ja Leute geben, die bei „Deutsch-Rock“ gleich den Strom abdrehen und nach allem, was jahrelang unter diesem Oberbegriff klampfte, kann man's ihnen nicht mal übel nehmen. Leute wie Udo Lindenberg verdecken da eben immer noch so unrepräsentativ wie überflüssig mit ihrer ganzen kommerziellen Breite die weniger bekannten, aber viel kompetenteren Interpreten. Dabei hat Rock-Musik in Deutschland eine fast zwanzigjährige Tradition.

Das fing damit an, daß Rock-Bands alles kopierten, was aus England und den USA über AFN, BFBS oder Musikboxen an ihre Ohren drang. Wer Elvis oder die Shadows nachspielen konnte, hatte zumindest die Möglichkeit, Samstagabend als Mitglied einer Tanzkapelle (ja, so hieß das damals) etwas Geld zu verdienen. Echte Profis, die von Rock-Musik leben konnten, gab's fast keine. Dazu mußte Rock erst Pop werden. Das kam so um 1962, als die Beatles höchstens einigen Fans im Cavern-Club in Liverpool und im Hamburger Star-Club bekannt waren. Sie stemmten das Loch in die Wand der Musik-Industrie und machten damit den Weg frei für einige Deutsche Bands, darunter die Lords und die Rattles. Letztere hatten einen Hit mit „Mashed Potatoes“ (Yeah), sogar in England, und das war alles Rhythmus und ein paar Reizwörter dazwischen zum Mitgrölen – im Studio durchgezogen wie auf der Bühne. So war's. Einer dieser Rattles hieß ACHIM REICHEL.

Das einzig Deutsche war allerdings: die Herkunft der Musiker. Verkehrssprache war Englisch wie eben auch die Musikform. Die hatten ein paar ausgeflippte Engländer den Amerikanern abgeschaut, um sie wieder in die USA zu bringen. Beatles und die Rolling Stones wurden zu amerikanischen Ereignissen. Sie blieben nicht im Gefühlsmäßigen stecken, sondern steuerten auch noch eine gehörige Dosis Spaß an den Texten bei: Die Lyrik der Stones und auch der Beatles definierte einen bestimmten Platz in der Gesellschaft, in der sie gehört wurde. In Deutschland ging der Spaß so weit wie die Englischkenntnisse der Rock-Fans. Mit deutschen Texten „kann man keine Rock-Musik singen“ hieß es. Manche probierten es dann auf Bayrisch, und das klappte, nachdem es auch auf Wienerisch schon geklappt hatte.

Eigentlich ist es verwunderlich, daß niemand früher auf die Idee kam, es mit Plattdeutsch zu versuchen. Seit Lindenberg gab es dann Deutsche Texte, die einen weiteren Kreis von Leuten erreichten. Und seit „Regenballade“, ACHIM REICHELs neuer LP, gibt es ein Textniveau, wenn auch kein original-rockiges, dass die „zeitgemäßeste volksliednahe Liedform“ (Reichel) salonfähig macht.

ACHIM REICHEL, heute 33 Jahre alt und seit über fünf Jahren nicht mehr auf der Bühne, verwirklichte mit „Regenballade“ sein bisher ambitioniertestes Projekt: Er komponierte die Musik zu acht deutschen Balladen, d. h., er verwendete Gedichte von Goethe, Theodor Fontane, Detlev von Liliencron, Otto Ernst, Ina Seidel und Arno Holz und machte daraus Rocksongs – ohne die Texte zu verändern. Und trotz anfänglicher Skepsis: Das fertige Produkt klingt manchem ganz so, als hätten Goethe und Co. nichts anderes im Sinn gehabt, als passende Worte zu Rock-Musik zu schreiben. Das kommt im Falle ACHIM REICHEL nicht von ungefähr.

Als er 1966 die Rattels hinter sich ließ – nicht ganz freiwillig, er mußte zum Bund – war deren große Zeit vorüber. Nach seiner Dienstzeit fiel er mitten hinein in die Blüte des psychedelischen Zeitalters und gründete zusammen mit Frank Dostal die Gruppe „Wonderland“. Hier kamen einige Namen und musikalische Potenzen zusammen, die später auf ihre Weise im Chor der Deutschen Pop-Musik Akzente setzten: Produzent war James Last, inzwischen der erfolgreichste Schallplattenmusiker überhaupt (was die Verkaufszahlen anbelangt. Oder hat Elvis mehr „Goldene“?). Und auch Les Humphries wurde im Anschluß an „Wonderland“ bekannt (Inzwischen macht er Schlagzeilen anderer Art). Die Gruppe brachte es bis 1969 auf eine Hit-Nummer „Moscow“, und zwei LPs und verschwand dann im Dunst ungezählter Haschpfeifen und Improvisationen. ACHIM REICHEL machte weiter.

Inzwischen gab es schon so etwas wie eine Deutsche Rock-Szene, und er versuchte es mit einer Solo-LP, „Die Grüne Reise“ betitelt. Die war ihrer Zeit voraus – jedenfalls wollte kein „progressiver“ Kritiker glauben, dass dieser Pop-Reichel etwas zustande bringen könnte, das „nichtkommerziell“, „progressiv“, „kreativ“ sein könnte. Zum anderen gab es 1970 für Grünes noch keine Käufer, geschweige denn Wähler. Aber was sollte einer nach so vielen Jahren des Rockens schon machen? Weitermachen, sagte sich auch ACHIM REICHEL, und „A. R. & Machines“ machten noch fünf weitere Alben, die alle gemeinsam hatten, dass sie wenig beachtet wurden.

Die enge Freundschaft mit dem wandlungsfähigen Genossen Zeitgeist brachte REICHEL dann zu neuen Einsichten und zu einer neuen Perspektive. Er merkte, dass die „Grüne Reise“ und was im Anschluß kam eigentlich auf ihre Art Meditationsmusik war. Und noch etwas merkte er: „ … daß das irgendwie unheimlich einseitig ist.“ So ging er dahin, wo auch alle englischen und amerikanischen Rock-Musiker ihre Anregungen holen: „Back to the Roots“.

Die Wurzeln auszubuddeln, dürfte einem Jungen aus St. Pauli, dessen Vater Schiffsteward war, nicht so schwer gefallen sein. Was er dabei fand, nennt man auf den Feuilleton-Seiten „Identität“. Und was er damit anfing, stand mit beiden Seemannsbeinen fest auf dem Deck der Tradition: Er nahm „Dat Shanty Alb'm“ auf uns schloß damit einen Kreis, der so ähnlich auch schon in der angelsächsischen Rock-Musik eingefädelt worden war. So, wie dort die Musik aus den Work-Songs der Negersklaven geschöpft hatte, so zapfte ACHIM REICHEL die Work-Songs der Seeleute des 19. Jahrhunderts, die Shanties, an. Und weil er die Rock-Musik sowieso für die moderne Volksmusik hält und Stücke wie „Rolling Home“ heute jeder Pfadfinder kennt, war der Shanty-Rock geboren. Da flogen die Fetzen.

REICHEL produzierte selbst und spielte die meisten Instrumente, als er im März 1976 mit Klaus Bohlmann als Toningenieur ins Studio ging, Verstärkung brachten noch ein Banjo, ein Akkordeon (Schifferklavier!), eine Flöte für die lyrischen Stellen zum Mitträumen, eine Violine und eine Pedal Steel-Gitarre. Und die Sache schlug ein: Wie's bei guten Platten üblich ist, stimmte es vom Cover bis zu den Streicherarrangements, von REICHELs Stimme bis zu den Fotos seiner Freundin Heidi. Seine Fassung von „Wir lagen vor Madagaskar“ sollte sich Heino mal anhören. Auch ein Text von einem „echten“ Dichter war schon dabei: Das „Lied von der Seekuh“ von Joachim Ringelnatz.

Weil's so schön war, folgte gleich die Zugabe: Der Piraten-Rock war noch nicht erfunden, das blieb REICHELs Feld. 1977 kamen also „Klabautermann“, wieder mit Unterstützung („auf dieser LP sind die meisten Matrosen Piraten“), wobei Tommy Wild und seine „Sehnsucht triefende Zigeunergeige“ zu Recht gesondert gewürdigt werden. Auch für dieses Album heimste REICHEL durchweg positive Kritiken ein.

Und so machte er „diesmal einfach eine LP ohne Limit“: Ein dreiviertel Jahr arbeitete er an Regenballade. Weil er die Platten, die er allein im Studio gemacht hatte, für „eindeutiger“ hält, spielte er wieder fast alle Instrumente im Sandwich-Verfahren übereinander und holte sich lediglich Lutz von Rahn von der Gruppe Novalis für diverse Tasteninstrumente wie Melotron, Hammond-Orgel und Piano. Und weshalb deutsche Balladen? Reichel: „Ich bin irgendwann darüber gestolpert – wie über die Shanties. Da stellte ich fest, daß viele der Balladen nicht so mystisch überladen sind, wie allgemein angenommen. Die Balladen auf der LP sprechen eine klare, deutliche, immer noch moderne und aktuelle Sprache.“

Discografie (Auswahl)

  • Dat Shanty Alb'm. Teldec 6.22535 AS
  • Klabautermann. Teldec 6.23010 AS
  • Regenballade. Teldec 6.23431 AP
    (mit: Der Zauberlehrling, Der Fischer, Nils Ranke, Trutz Blanke Hans, Pidder Lüng, Een Boot ist noch buten u. a.)

Daß auch historische Texte politische Aussagekraft haben können zeigt am deutlichsten „Pidder Lüng“ von Detlev von Liliencron. Wenn REICHEL die in jedem Vers wiederkehrende Refrainzeile singt „Lewwer duad üs Slaav“ (Lieber tot als Sklave), dann nimmt man ihm seine Interpretation dieser deutschen Geschichte auch ab – als etwas, was ihm nahe geht. Dem Vorwurf, Denkmalschändung zu betreiben, indem er höhere Literatur für Rock-Musik „mißbraucht“, begegnet er dann auch mit Überzeugungskraft: „Sicherlich handelt es sich hier um deutsche Literatur, um klassische dazu. Aber soll sie nicht auch leben? Muß Geniales in den Bücherschränken vermodern? Ob es anmaßend ist, deutsche Literatur zu vertonen, müssen andere beantworten.“

Niemand wird sich wundern, daß fünf der acht Balladen vom Meer, Fischer und Sturmflut handeln. Bleibt zu hoffen, daß ACHIM REICHELs Seemanns-Rock nicht nur als Trilogie geplant war.

Hans Pfitzinger – Stereo Musik