Vier Jahrzehnte im Dienst der Rockmusik

Eine Biografie von 2003

Der Rock’n’Roll in deutschen Landen kommt ins Alter, und nur wenige seiner Protagonisten werden/wurden mit dieser Musik und diesem Lebensstil erwachsen. In Würde altern und trotzdem geistig jung und musikalisch kreativ zu bleiben, dieses Privileg hat sich nur eine Handvoll von Musikern aus der legendären Beat-Ära erhalten können.

Achim Reichel feierte im August 2003 sein 40-jähriges Bühnenjubiläum. Vier Jahrzehnte im Dienst der Rockmusik und seiner Fans, auf eine solche Erfolgsbilanz können nur ein paar Musiker aus Deutschland zurückblicken. In einem jeweils dreieinhalbstündigen Konzert an zwei Abenden in der Hamburger Fischauktionshalle ließ das „Hamburger Rockdenkmal“ („Die Welt“) noch einmal die Höhe- und Glanzpunkte seines musikalischen Lebens Revue passieren. Auf der Bühne wirkten vokal- und tatkräftig viele Freunde und Gäste mit wie Heinz-Rudolf Kunze, Klaus Lage, Stoppok, Pe Werner, Inga Rumpf, Piet Klocke, Lotto King Karl, Jan Fedder, Gottfried Böttger, Joja Wendt und der Chor „S.O.U.L. 50 Voices“.

Achim Reichel und seine Begleitband spielten zum großen Bühnenfest sogar sechs Songs, die bislang nie auf einer Reichel-Platte auftauchten oder in einem Reichel-Konzert gespielt wurden wie ‚La Paloma‘, ‚Lindenbaum‘, den Wonderland-Hit ‚Moscow‘ und das brandneue Lied ‚Leben leben‘. Dem Hamburger Sänger und Gitarrist gelang sogar das Kunststück, die Rattles in der legendären Starclub-Besetzung von 1963 für einen umjubelten Kurzauftritt auf die Bühne zu bekommen.

Ein Musiker im Einklang mit seinem Leben und seiner Musik. Ein Hoch im Norden. Kein deutscher Musikschaffender kann von sich behaupten, mit den Beatles, Rolling Stones und Bee Gees auf einer Bühne gestanden zu haben. Auch bekam er 1988 als bislang einziger deutscher Musiker eine Einladung zur „Rock’n’Roll Hall of Fame“-Gala ins Waldorf Astoria in New York, wo er u. a. seinen alten Freund aus Hamburg-Tagen, Paul McCartney, wieder traf. Der Erfolg hat Achim Reichel geprägt, aber nicht entscheidend verändert. 60 Jahre ist das Hamburger Original alt, so jung wirkte er lange nicht. „Ich möchte das sein, was ich mache und mir nicht ein Image ausdenken, dem ich dann ewig entsprechen muss“, erklärte Achim Reichel in einem Gespräch mit der „Welt“.

Seit vier Jahrzehnten zählt Achim Reichel zu den Schrittmachern der deutschen Musikszene. Kaum ein Kollege hat solche drastischen Wandlungen und Häutungen in seiner Musik vollzogen wie der blonde Norddeutsche, der als Sohn eines Seemanns und einer Schneiderin seinen jugendlichen Schliff zwischen Hafenromantik und Arbeitermilieu auf dem Hamburger Kiez erhielt. Das prägt, noch heute. Hafen und Fernweh flossen in seine Lieder, aus dem Rock’n’Roll trieb er sich irgendwann selbst in eine globale Folklore zwischen Seemannsgarn und klassischer deutscher Lyrik.

Im legendären Hamburger „Star-Club“ auf der Reeperbahn startete er seine Karriere. Er absolvierte zunächst eine Kellnerlehre, um wie sein Vater als Schiffssteward zur See zu fahren, doch der Drang zur Rockmusik war zu mächtig. Der „Star-Club“ wurde seine kreative Bude, der Laufsteg hinaus in die weite Welt. Mit den Rattles räumte er damals ab, sie waren Deutschlands größte Beat-Band. Sieben Rattles-Alben eroberten die Charts, 30 Singles wurden produziert. Die Jungs spielten auf Augenhöhe mit Weltstars wie Little Richard, den Stones, Joe Cocker und Eric Burdon. Ihr Support bei der Beatles-Blitz-Tournee 1966 durch Deutschland war der musikalische Ritterschlag für die Hamburger Rockjungs. Die Mädels kreischten sich die Seele aus dem Leib und klopften nachts an Reichels Hotelzimmertür. Die FAZ nannte ihn „die erste Kultfigur für Deutschlands junge Beat-Generation“.

Mit der Einberufung zur Bundeswehr stand die Karriere auf der Kippe. Da „bisher keine Anzeichen dafür vorliegen, dass Beatmusik in naher Zukunft aus der Mode kommen wird“, wie ein Gericht 1967 Reichels Antrag auf Rückstellung vom Wehrdienst ablehnte, musste er die Gitarre gegen den Stahlhelm eintauschen. Eine Katastrophe. Die Fans waren verzweifelt, plötzlich war der Rekrut Reichel der Star der Boulevardpresse. „Der Beat-Soldat muss Haare lassen“, lautete eine Schlagzeile. Zur Freude seines Friseurs, der Locke für Locke über Kleinanzeigen an die Reichel-Fans verkaufte.

Der Dienst fürs Vaterland nahm ein Ende, die Musik 1968 einen radikalen Neuanfang. Achim Reichel verließ die Rattles und gründete die Gruppe Wonderland. Deutschlands berühmtester Bandleader James Last produzierte den einzigen Hit ‚Moscow'. Es folgten Jahre aus Chaos und Experiment, die bei manchen Fans und Kritikern mächtige Zweifel an Achim Reichel und seiner Musik aufkommen ließen. Immer nur die Attitüde der amerikanischen und englischer Vorbilder nachzuahmen, das reichte dem selbstbewussten Hamburger nicht mehr. Er wollte mehr als nur kopieren, er wollte zu sich selbst finden. „Wenn man sich von seinen Vorbildern lösen will“, erklärt der Profi heute, „dann muss man sich die Frage stellen: Was könnte denn möglicherweise mein eigenes Ding sein? Und wenn man sich diese Frage stellt, dann muss sich auch die Frage stellen: Wo befinde ich mich überhaupt? Am Anfang hat es bei mir dazu geführt, dass ich die englischsprachige Popmusik verstoßen habe.“

Die Abkehr von Pop und Rock führte Achim Reichel in das Reich der musikalischen Experimente. Abseits der Schnelldreher im Musikbizz produzierte er mit dem Projekt AR & Machines fünf Alben mit meditativen Rock-Improvisationen. Am bekanntesten ist noch heute die ‚Grüne Reise‘ von 1970, die in Remixer-Kreisen als Kultobjekt gehandelt wird. Zwischenzeitlich bemühte er sich als Retter des legendären Star-Clubs — leider vergeblich. Mit der Gründung des Gorilla-Musikverlages steuerte Achim Reichel in ein neues Kreativfeld. Er produzierte u. a. Gruppen wie Ougenweide mit ihrer Mischung aus Minnesang und Folklore. Auch die Arbeiten mit der Romantik-Rockband Novalis hinterließen Spuren des Wandels.

Achim Reichel näherte sich schließlich einer Liedform, die völlig abseits aller Trends lag: Shantys. Die stürmische Herkunft des Vaters hielt Einzug ins musikalische Leben des Sohnes. Der „Spiegel“ jubelte: „Mit diesen verrockten Seemannsliedern, die so natürlich und unprätentiös klingen, als hätten sie schon immer diesen Beat-Rhythmus gehabt, hat er auch gleich einen Klassiker produziert.“ Der Klassiker hatte auch einen Namen: ‚Dat Shant Alb’m‘. Der Künstler selbst meinte: „Ich merkte, dass Plattdeutsch eine Sprache mit viel Melodie ist; abgerundet, rollend, einfach und musisch.“

Endlich wurde der Rock’n’Roll auch hierzulande als eine Art Volksmusik verstanden. „Reichel symbolisiert in seiner unaufhaltsamen musikalischen Verwandlungsfahrt, dass Rockmusik wie andere populäre Ausdrucksformen populärer Kunst ihre Zeit in Bildern, Worten und Klängen immer wieder neu benennen muss“, zog die FAZ ein lobendes Resümee. Fortan beschäftigte sich der Rocker von der Elbe mit alten deutschen Dichtern wie Goethe und Fontane sowie mit neuen deutschen Literaten wie Jörg Fauser, Kiev Stingl, Jürgen Theobaldy, Christoph Derschau und Peter-Paul Zahl. Erstaunliche und erfolgreiche Platten entstanden aus diesen Symbiosen: ‚Regenballade‘ (1978),‚Ungeschminkt‘ (1980), ‚Blues in Blond‘ (1981, mit dem Hit ‚Der Spieler‘) und ‚Nachtexpress‘ (1983, mit dem Hit‚Boxer Kutte‘).

Achim Reichel baute bislang unbekannte Brücken von der Vergangenheit in die Gegenwart und etablierte neue Formen aus Dichtung und Rockmusik. „Heute bekomme ich E-Mails von Schülern und Lehrern, die mir begeistert schreiben, dass sie meinen ‚Herrn von Ribbeck zu Ribbeck’ durchgenommen haben und über die Musik einen besseren Zugang zu den Fontane-Versen fanden“, erzählt Herr Reichel. Darauf ist er zu recht ein wenig stolz.

1985 erobert Achim Reichel, wenn auch nur kurzfristig, eine neue Verwirklichungsplattform. Unter der Regie von Diethard Küster spielt er neben dem Joschka Fischer (jawohl, genau der!) und Willy DeVille in dem Kinofilm „Va Banque“ einen Bankräuber im Berliner Milieu.

1986 unternimmt er eine vierwöchige Südostasien-Reise für das Goethe-Institut. Viele Erfahrungen bleiben hängen, hacken sich in die neuen Songtexte. Aus dem Album ‚Was Echtes‘ resultieren 1989 zwei Top-50-Hits: ‚Fliegende Pferde‘ und ‚Kreuzworträtsel‘. Eine kurzfristige Rattles-Reunion mit Platte und Tournee unterbricht das Tagesgeschäft, wird aber nicht zur dauerhaften Perspektive. Es gibt nur eine starke gemeinsame Vergangenheit, aber zu unterschiedliche Vorstellungen von Zukunft. Achim Reichel zieht die Reißleine und stürzt sich wieder in seine eigene Musik. 1991 erscheint die CD ‚Melancholie & Sturmflut‘ mit den Hits ‚Aloha Heja He‘ und ‚Kuddel Daddel Du‘, die noch heute die Durchstarter bei jedem Konzert sind. Reichel kassiert seine erste Goldene Schallplatte. 1993 erscheint das Album ‚Wahre Liebe‘.

Am 28. Januar 1994 kommt es schließlich in der Großen Freiheit 36 in Hamburg-Altona zu einem historischen Auftritt. Mit Familie, Fans, Freunden, Kollegen und Medien feierte Achim Reichel seinen 50. Geburtstag. Gäste wie Inga Rumpf, Ulrich Tukur und Joachim Witt schunkeln und rocken auf der Bühne mit dem Geburtstagskind durch die musikalische Reichel- Vita. Quasi als Geschenk fällt das Live-Album ‚Große Freiheit‘ ab. Nur ein Jahr später folgt die neue CD ‚Oh Ha!‘ mit dem gesellschaftskritischen Erfolgssong ‚Exxon Valdez‘ über eine der größten Schiffskatastrophen der letzten 50 Jahre, welchen er zum 25. Gründungstag von Greenpeace geschrieben hatte.

Im Frühjahr 2002 stürmt Achim Reichel auf eine neue Stufe seines kreativen Outputs. Mit der CD ,Wilder Wassermann' knüpft er konsequent und weiterführend an die ‚Regenballade‘ und ‚Dat Shanty Alb’m‘ an und verschweißt klassisches deutsche Dichtergut mit gereiftem Rockgeist. Ein Projekt, an das sich heute kaum Musiker heranwagen. Achim Reichel hat sich damit seine Eingeständigkeit, Souveränität und Originalität erhalten. „Heute bin ich so etwas Ähnliches wie ein rockiger Balladensänger“, resümiert er zufrieden. „Ich erzähle gerne Geschichte in meinen Liedern und mache keine Songs, in denen es nur um Gefühlsduseleien geht. Meine Geschichten fangen irgendwo an und führen irgendwo hin.“ Auf einer kurzen Tournee mit seinem Akustikquartett erleben seinen Fans 2003 eine wiederum neue Seite des Hamburger Sängers, Gitarristen und Komponisten.

Auch nach über vier Jahrzehnten im Business denkt Achim Reichel positiv und ist mit Spaß dabei. „Die Musik muss glaubwürdig sein“, sagt er. Punkt. So einfach kann’s sein. Manchmal kommt ihm die lange Zeit wie ein kleines Wunder vor, und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. „Es gibt nichts, was ich lieber täte“, lautet sein Fazit.

Willi Andresen / Hamburg, im Dezember 2003