Konzertbericht

Beat und mehr

Achim Reichel im Sinkasten

FRANKFURT A.M.

Heute, die Rattles gibt es nicht mehr, ist er wieder auf der Bühne. Musik und Gesang sind immer noch nahe am Beat, aber gleichzeitig längst über ihn hinausgewachsen. „Zip A Dee Do Dah“ oder „Mashed Potatoes“, einstige Hits, spielt REICHEL nur noch als Zugabe. Sein aktuelles Programm schöpft er aus der reichlich gefüllten Kiste deutschen Liedgutes; die Musik dazu schreibt er selbst. Balladen von Fontane oder Goethe singt REICHEL genauso einfühlsam locker wie die Moritat von Mackie Messer. Auf seiner LP „Ungeschminkt“ kann man ihn zu Lyrik von Peter Paul Zahn, Jörg Fauser u. a. hören.

Achim Reichel
Rockpalast Loreley, 29.08.1982 Foto: M. Becker

Die Band um REICHEL mit Hajo Weber (gtr); Dieter Horn (b-g); Lemy Lembrecht (dr); Gerd Fuhr (Keyboards) und Manfred Seegers am Saxophon spielt mit enormen Drive. Keiner der Musiker versucht sich in den Vordergrund zu schieben: Eine Beat-Tugend, die heute viele Rocker vergessen haben. Es ist Gruppenmusik, die gespielt wird, ohne die abgelatschten Versuche noch besser sein zu wollen als etwa Jimi Hendrix oder Lautstärke mit Sound zu verwechseln.

REICHELs Musik ist klar strukturiert. Sie läuft immer geradeaus ohne Schnörkel und Fransen. Kurze Gitarrenriffs machen den musikalischen Werdegang klar: Da meint man mal Eddie Cochran, mal Hank Marvin von den Shadows zu hören; aber die Musiker bleiben nicht im Nachspiel verfangen.

Zur Musik REICHELs angeraute Stimme. Er artikuliert prägnant, jedes Wort ist zu verstehen; mehr sprechend als singend lässt er viel Bluesfeeling spüren. Die Pausen zwischen den einzelnen Nummern sind kurz, so kurz, dass viele Zuhörer im brechendvollen Sinkkasten kaum Zeit finden, Abstand zu gewinnen. Eine geradezu ungeheure Spannung hält sich während der einhundertzwanzig Konzertminuten. Kein Absacken, keine Atempause; immer Volldampf voraus. Erst als die Musiker von der Bühne gehen, kann man wieder durchatmen. Drei Zugaben erklatschen sich die Zuschauer, eine vierte verweigerte REICHEL. Auch damit beweist er Gespür: Viel mehr an Musik von so hervorragender Qualitäten wäre fast unerträglich geworden.

Was REICHEL an diesem Abend mit seiner Band bot, ist hierzulande nur noch mit Lindenberg und Westernhagen zu vergleichen. Seine neueste LP „Blues in Blond“ Ahorn, Label Nr. 6.24882, lässt als Studioproduktion etwas die lebendige Dichte seiner Auftritte vermissen. (Aber schon die Rattles waren auf der Bühne besser als auf ihren Platten).

HANS HUGO SCHILDBERG
(Reichel ist auch am 26.1. in der Stadthalle Kassel zu hören)
Frankfurter Rundschau – Januar 1981