Blick zurück im Rock

Bericht aus dem Hamburger Abendblatt von 1994

Achim Reichel – ein Hamburger Jung wird 50

Star Club, Rattles, Shanties – ein Mann und drei Jahrzehnte Musikszene
Von Jürgen Stark

Als Achim Reichel am 28.Januar 1944 in Hamburg geboren wurde, da war noch Krieg, und ein extrem kalter Winter brachte klirrenden Frost. Doch dieses düstere Geburts-Szenario beeinflusste sein Leben kaum. Die spätere Frohnatur Reichel wuchs nach Kriegsende in der Bernhardt-Nocht- und in der Hafenstraße auf: „Unser Haus war das mit der Gloria-Mehl-Werbung, neben dem Haus mit dieser bekannten Hafenstraßen-Fassade. Mein Vater ist als Steward zur See gefahren und mein Großvater auch.“ Freitag feiert Achim Reichel in der Großen Freiheit 36 seinen 50. Geburtstag.

Seine Kindheit war geprägt vom Blick auf Elbstrom, Schiffe und Werften, vom Straßen-Fußball in den Gassen des damals noch relativ intakten Altbauviertels. Er wuchs mitten in den neuen Grooves des Rock 'n' Roll auf, den die Besatzungssender BFN und AFN pausenlos ausstrahlten. 1960 kaufte er sich mit seinem Schul- und Fußball-Kumpel Herbert Hildebrandt die erste E-Gitarre. Ein Schritt mit Folgen. Der St.Pauli-Junge mit der Elvis-Tolle gründete nach ersten Drei-Akkord-Übungen eine Band – die Rattles.

„Was bleibt sind schöne Erinnerungen“

Von da an ging’s bergauf. Die Rattles gewannen einen Star-Club-Wettbewerb und bekamen dort als erste deutsche Band ein Engagement. Es folgten vier England-Tourneen mit den Beatles. Legendärer Stoff. Doch 1966 lehnte das hanseatische Verwaltungsgericht Reichels Antrag auf Befreiung vom Dienst mit der Waffe ab. Die Amtsbüttel antworteten auf seinen Wunsch, an neuen Musikformen zu feilen, als Trendforscher: „Es liegen bisher keine Anzeichen dafür vor, dass Beatmusik in naher Zukunft aus der Mode geraten wird.“ Sie geriet. Zwar dokterte Reichel mit seinem Kumpan Frank Dostal noch mit „Wonderland“ an einem Band Projekt herum, doch die Zeiten standen trotz des Welthits „Moscow“ längst auf Innerlichkeit.

Reichels Haare wuchsen und wuchsen. Und so saß er 1970 da, im Haus der Jugend Lattenkamp. Im Schneidersitz hockte der Ex-Beatnik zwischen Bandmaschinen und Kabeln, es fiepte und piepte, die Gitarre surrte und schnarrte, im Raum breitete sich süßlicher Haschisch-Nebel aus. Reichel geriet, wie so viele, in den Zwiespalt. In den „Rock“ war der Geist eingezogen, der körperbetonende „Roll“ geriet in den Abseits. Der Gitarrist und Sänger entdeckte damals auch die soziale Frage. „Wir gründeten die IG Rock, um die unerträglichen Zustände, denen deutsche Rockmusiker gegenüberstehen, gemeinsam zu überwinden.“ Ein Rohrkrepierer.

Auch der Versuch, den vom Verwesungsprozeß befallenen Star Club zu retten, schlugen fehl. Reichel war dort letzter Mitbesitzer, dann kam nach letzten Zuckungen schnell der endgültige Abriss.

Ich bin realitätsnah: Was soll ich jahrelang darunter leiden, dass es den Star Club nicht mehr gibt?

Das ganze Musikbusiness hat sich verändert, die Hör- und Sehgewohnheiten haben sich gewandelt. Der Star Club wäre wohl nur finanzierbar, wenn er dick subventioniert werden würde. Dass da pro Nacht sechs Bands und mehr auftreten – das könnte sich doch heute kein Mensch mehr leisten, so was findet man nur noch auf Festivals. Was bleibt, das sind wunderschöne Erinnerungen.

Weiter hin- und hergerissen, gewann zwischendurch plötzlich eine ganz besondere Variante des Rock für ihn an Bedeutung: Piraten-Songs und Beat-Shanties. 1976 erschien "Dat Shanty Alb'm", und bei Reichel waren Körper und Kopf endlich wieder beisammen. Der Spiegel geriet ins Schwärmen: „Verrockte Seemannslieder, die so natürlich und unprätentiös wirken, als hätten sie schon immer diesen Beat-Rhythmus gehabt – er hat einen Klassiker produziert!“ Mit neun Kumpanen betrat er zum einzigen Konzert die schwankenden Planken des Schauspielhauses im November 1976. Der Hafenrand-Junge mit Mantel und Degen: „Volksmusik muss leben, und das kann sie nur, wenn man sie in das Klangbild der Zeit hebt.“ Dieses einzige Shanty-Konzert hat heute Kult-Status, in den Stuhlreihen saßen sogar etliche alte Seemänner, die mal schauen wollten, was die Jugend so mit den Shanties alles anstellt. Sternstunden mit zeitlosen Songs, die besonders auf dem „Klabautermann“-Folge-Album nur so perlten.

„Die Vergangenheit ist ein Teil von mir“

Schließlich legt er sogar Hand an Fontanes „Herr von Ribbeck auf Ribbeck“ und schuf einen äußerst unterhaltsamen Gassenhauer. Doch der Kopf kam wieder und wurde schwer. Mit seinen Piratensongs war er dem Millerntorstadion und auch der sonstigen Zeit gewaltig voraus, sein Durchbruch sollte dennoch daran anknüpfen. Reichel hatte den Literaten Jörg Fauser kennen gelernt und bürstete nun das Rock-Fell gegen den Strich. Draußen tobte der Punk-Rock für zwei, drei heiße Sommer, folgte die „Neue deutsche Welle“ mit all ihren Peinlichkeiten. Reichel überwinterte im Schoß der Literatur.

Das Album „Blues in Blond“ erschien. 1982 kam die Single-Auskopplung der „Spieler“ auf den Markt – und Reichel in die ZDF-Hitparade. Doch insgesamt gerieten die Kritiker in Zweifel, ob das der wahre Reichel sei.

Am Ende der 80er Jahre kommt Reichel endlich auf den Punkt. Die Musik hat plötzlich Bauch und Hirn, Herz und Verstand, lebt zwischen wohlfeilem Zitat in historischer Rock-Dimension und streift heimisch-maretimes Milieu.

Ein Gericht mit tollen Zutaten. Hier kocht der Chef: „Die Vergangenheit holt mich nicht ein, sie ist ein Teil von mir. Alles hat seinen Platz“. Auch die kurzzeitige Rattles-Reunion hatte ihren Sinn. „Das war wie ein Klassentreffen nach fast 20 Jahren. Aber es war schwer, dieser Sache eine gemeinsame Perspektive zu geben. Wir hatten unseren Spaß, ich hab's nicht bereut.“

Wo heute noch Rattles draufsteht, ist Reichel nicht mehr drin. Der hat sich mit Alben wie „Melancholie und Sturmflut“ ins Zentrum seines kreativen Potentials geschossen. Sein "St.Pauli Blues" gehört zu den jüngeren Songs, die alles vereinen und den Sänger mit seiner Herkunft versöhnen. Wenn heute irgendwo zwischen Millerntor und Hafenrand ein größeres Musikfest läuft, dann ist der alte Kiez-Rocker mittendrin. Seine Geburtstagsparty lässt er zünftig von den Jungs und Deerns aus der Hafenstraßen-Volxküche bekochen. Jetzt haben ihn die Piraten wieder. Darüber singt er. Mit ’nem Schuß Humor, ’ner Prise Seemannsgarn und dem ewig frechen Rocker-Blick: „Ich kann mir morgens noch im Spiegel ohne Probleme ins Gesicht sehen und sagen: Jawohl, das biste!“

Hamburger Abendblatt – 24.01.1994